Schlössersterben
Wer als Burgen- und Schlösserfreund durch die sächsische Landschaft fährt, wird mancherorts nicht nur eine alte malerische Ruine, sondern auch so manches, anscheinend erst kürzlich verlassenes Objekt vorfinden. Nicht Wenige fragen sich, ob hier tatsächlich Kriege und Kampfeswirren einen so starken Verfall bedingten und nur Ruinen als letzte Erinnerung an vergangene Geschlechter übrig ließen.
Tatsächlich entstanden einige dieser Burgenreste in Friedenszeiten, als die adligen Geschlechter höfisch wurden und es ihnen ruhige Zeiten ermöglichten, sich inmitten ihrer Felder anzusiedeln. Danach verfielen schnell die alten Zufluchtsstätten auf Bergeshöhen und die sicheren Wasserburgen auf sumpfigem Gelände. Alles Wertvolle, wie Bauholz, Dachziegel, ja ganze Toranlagen, wanderte zum Neubau hinüber und nur der nicht verwertbare Rest blieb den Eulen und der pflanzlichen Natur überlassen. Fertig war die romantische Ruine und die Fantasie bemühte sich eifrig, sie mit spukenden Rittern, weißen Frauen, unterirdischen Gängen oder verborgenen Schätzen zu beleben.
Man sollte sicher meinen, heute könne eine Ruine nicht mehr entstehen. Die Menschen sind aufgeklärt und der Denkmalschutz tue alles, um die geschichtsträchtigen Bauten zu erhalten. Doch die nachfolgenden Zeilen werden das Gegenteil darstellen.
"Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen." Diese im Artikel 14 Absatz 2 des Grundgesetzes stehende Verpflichtung, die nach dem Zweiten Weltkrieg eine Grundlage des Aufschwungs in Deutschland war, wird heute gerade bei den weniger bekannten Schlössern oftmals vergessen. Auch wenn sich der Freistaat Sachsen gerne als "Schlösserland" bezeichnet, ist nicht zu übersehen, dass zahlreiche historisch wertvolle Bauwerke in den letzten Jahren dem Kulturstaat Sachsen mehr und mehr verloren gingen und auch heute noch verloren gehen.
Sind unsere sächsischen Schlösser noch zu retten? Nach der Wende glaubte man, dass privates Engagement viele der ruinösen Schlösser retten könnte. Auch ist mit Fördermitteln schon eine Menge erreicht worden. Langfristig ist es aber kaum möglich, die Schlösser allein durch Fördermittel und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen zu unterhalten. Zwar werden die "Perlen" durch die "Staatlichen Schlösser, Burgen und Gärten in Sachsen" - einem Staatsbetrieb im Geschäftsbereich des Sächsischen Staatsministeriums der Finanzen - liebevoll gepflegt, unterhalten und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht, jedoch verfallen zahlreiche im privaten Besitz oder im kommunalem Eigentum stehende Gebäude zusehends.
Die Ursachen sind vielfältig und werden schon 1811 durch Christian Johannes Oldendorp in seinem Werk "Die merkwürdigsten alten Burgen und Schlösser des Königreichs Sachsen" beklagt: "Es ist bekannt, dass in unsern Zeiten in Deutschland manche alte Urkunde der Vorzeit auf die unverzeihlichste Weise gewaltsam zerstöret worden ist. So fährt, geht und reitet man zum Beispiel jetzt eine grosse Strecke auf lauter Fragmenten der schönen Wittekindsburg in der ehemaligen Grafschaft Ravensberg, indem man sie einriss und im eigentlichen Sinne des Wortes, zermalmte, um damit eine Landstrasse auszubessern; aus dem alten ehrwürdigen Kloster Walkenried wurden Kirchen und andere Häuser gebaut, und wie manches andere schöne Gebäude der Vorzeit hatte nicht ein ähnliches Schicksal. Kann es unserer Wissbegierde nicht einigermassen zum Vorwurf gereichen, dass wir uns um die uns am nächsten angehenden vaterländischen Alterthümer wenig oder garnicht bekümmern, sondern nur diejenigen aufsuchen und bewundern, welche sich ausser unserm Vaterlande befinden?
Wir staunen jeden verwitterten Marmorblock jenseits der Alpen an, und zerbrechen uns die Köpfe über seine ehemalige Bestimmung, allein unsere eigenen vaterländischen Monumente des Alterthums achten und kennen wir nicht; wir sehen sie niederreissen und Schaafställe und Brauhäuser daraus bauen, ohne uns weiter darum zu kümmern."
1919 griff der bekannte Lehrer und Geschichtsschreiber Oberstudienrat Dr. Otto Eduard Schmidt in den "Mitteilungen des Landesvereins Sächsischer Heimatschutz", Bd. VIII, Heft 10/12 das Thema wieder auf: "Schlösser erweisen sich in weiten Kreisen unseres Volkes keiner besonderen Beliebtheit. Schon der Name bedeutet etwas von der offenen Flur des Dorfes oder von der öffentlichen Straße Abgeschlossenes, nicht für jedermann Zugängliches. Damit ist leicht der Verdacht hochmütiger Gesinnung der Bewohner, oft auch der Vorwurf schwelgerischen Lebens verbunden... Eine gewisse Feindschaft gegen die Schlösser hat es auch schon in früheren Abschnitten der Geschichte gegeben, selbst in der höchsten Schicht der Gesellschaft. Als die Leiden des Siebenjährigen Krieges in Verbindung mit der gewissenlosen Staatsverwaltung des Ministers Grafen Brühl Sachsen an den Rand des Staatsbankerotts geführt hatte, ging der Gedanke, einen Teil der Schlösser für gemeinnützige Zwecke zu verwenden, von dem jungen Kurfürsten Friedrich August III (dem Gerechten) und von seinen vertrauten Ratgebern aus." Bereits 1770/71 verwandelte sich Schloss Hartenfels in Torgau - einst eines der schönsten Schlösser der deutschen Frührenaissance - in ein Zuchthaus. "Das kostbare Hausgerät wurde verauktioniert und in alle Winde zerstreut.", ergänzt Otto Eduard Schmidt. Andere Schlösser, wie Dippoldiswalde, Leisnig, Rochlitz oder Zschopau nahmen kurfürstliche Ämter auf. Colditz und die Hubertusburg dienten zeitweilig als Wohnungen und Krankenhäuser. Schloss Freudenstein in Freiberg verwandelte man nach langer Verwahrlosung in ein Getreidemagazin und das Schloss Albrechtsburg in Meißen in eine Porzellanmanufaktur. So blieben nur noch wenige Schlösser, wie das Residenzschloss, Pillnitz oder Moritzburg im regelmäßigen Gebrauch des Königshauses.
Mit der Oktoberrevolution 1917 in Russland spitzte sich die Lage zu. Dr. Otto Eduard Schmidt sah voraus: "Die gegenwärtige Zeit mit ihrer Herrschaft sozialistischer und proletarischer Ideen bedeutet für diese Schlösser, ebenso auch für die des Adels, eine weit schwerere Gefahr als ehedem der nach dem Siebenjährigen Kriege drohende Staatsbankerott. Was soll aus ihnen werden, haben sie ein Recht auf Schonung und Erhaltung auch in einer Zeit, wo in vielen Orten Wohnungsnot besteht? Man wird gut tun, diese Frage recht vorurteilsfrei zu prüfen."
Wie Recht er haben sollte zeigte sich während der Bodenreform nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Zu dieser Zeit wurden die ehemaligen Eigentümer enteignet. Die landwirtschaftlichen Güter, aus denen einst der Unterhalt für die Schlösser und Herrenhäuser erwirtschaftet wurde, wurden zerstückelt und den landarmen Bauern übergeben, während die Gebäude selbst an die Gemeinden fielen und dort einer häufig zweckentfremdeten Nutzung als Altenheim, Schule, Kindergarten oder Verkaufsstelle dienten. Auch wenn der Umgang mit den Gebäuden kaum ihrer kulturhistorischen Bedeutung entsprach, wurden durch die Verwaltungen doch wenigstens die wichtigsten Reparaturen vorgenommen, die so zum Erhalt der Schlossbauten beitrugen.
Diese Teilung zwischen Grund und Boden einerseits sowie den Gebäuden andererseits blieb auch nach der politischen Wende in der DDR erhalten, so dass die neuen Eigentümer heute kaum mehr auf die wirtschaftliche Existenzgrundlage der ehemaligen meist umfangreichen landwirtschaftlichen Güter zurückgreifen können und die Finanzierung aus anderen Quellen bestreiten müssen. Dass die Restaurierung und der Unterhalt solcher Objekte enorme finanzielle Ressourcen verschlingen, erkennen manche Neueigentümer leider erst zu spät.
Ein ähnliches Schicksal erfahren auch die Gebäude, die sich im kommunalem Besitz befinden. Welch knappe Haushaltssituation in den meisten Städten und Gemeinden herrscht, ist weitläufig bekannt. Für die kostspielige Sanierung bleiben keine oder nur geringen Mittel übrig, die oftmals noch nicht einmal für die dringendsten Reparaturen und Sicherungsmaßnahmen reichen. So ist es nicht verwunderlich, dass die Städte und Gemeinden bestrebt sind, diese ungeliebten - weil im Unterhalt teuren - Bauwerke zu verkaufen.
Häufig wurden Objekte nach der politischen Wende aber auch für eine symbolische Mark vorschnell an Interessenten veräußert, sofern diese ein mehr oder weniger tragfähiges Konzept vorlegten. Die Umsetzung dieser Konzepte ist in der Folgezeit kaum überprüft worden. Ob es sich bei den Käufern um Grundstücksspekulanten handelt oder die Neueigentümer lediglich die zu erbringenden Investitionen unterschätzt haben, kann nur gemutmaßt werden. Gelegentlich kann man sich jedoch des Eindrucks nicht erwehren, dass baufällige Schlösser nur erworben wurden, um auf die Grundstücke zurückgreifen zu können, auf denen diese Gebäude stehen. Das Schloss selbst war nur ein Beiwerk, für welches der Neueigentümer kaum Interesse zeigte.
Was persönliches oder gesellschaftliches Engagement jedoch bewirken können, sieht man anschaulich an einigen liebevoll restaurierten Bauwerken, von denen beispielhaft die Schlösser Proschwitz und Großenhain genannt werden sollen.
Bereits Anfang der 90er Jahre kaufte der Prinz zur Lippe den ehemaligen Familienbesitz Stück für Stück zurück und machte Proschwitz zu einem sehenswerten Weingut, in dem das Schloss als Mittelpunkt eine nicht nur regionale Bedeutung erlangt hat.
Schloss Großenhain, dass jahrzehntelang als Fabrik missbraucht wurde, ist ausgehend von der 3. Sächsischen Landesgartenschau im Jahr 2002 zwischenzeitlich zu einem über die Grenzen des Kreises hinaus bekannten Kulturzentrum geworden.
Natürlich ist es illusorisch zu glauben, alle gefährdeten Objekte retten zu können. Die finanziellen Mittel sind knapp und die Gebäude entsprechen aus heutiger Sicht nicht mehr den veränderten Wohnbedürfnissen. Auch wird es kaum möglich sein, alle Häuser als Museum, Hotel oder Restaurant der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Daneben sind manche Bauwerke bereits so verfallen, dass eine sachgerechte Sanierung schlicht am erforderlichen Aufwand scheitert. Insbesondere in abgelegenen Gegenden wird man zudem selten eine sinnvolle Nutzung für unverhältnismäßig große Objekte finden können.
Das Schlössersterben geht also weiter. Es vollzieht sich gegenwärtig noch nicht im Lichte der Öffentlichkeit, sondern meist still und leise. Man kann wohl davon ausgehen, dass für 20 Prozent aller Schlösser und Herrenhäuser jegliche Hilfe zu spät kommt.
Mancherorts hat man jedoch die Probleme erkannt. In verschiedenen Städten und Gemeinden regt sich Widerstand. Bürgerinitiativen, die sich nicht mit den Zuständen abgeben wollen, wurden gegründet und versuchen mit mehr oder weniger Erfolg dagegen anzugehen oder wenigstens Aufmerksamkeit zu erwecken. Aber auch ihnen fehlt zuweilen das Geld.
Sicher sind Gebäude auch nicht für die Ewigkeit gemacht. Schon immer hat es Veränderungen, Abrisse und Neubauten gegeben. Dennoch sollte aber eine Gesellschaft wie die unsere in der Lage sein, wichtige Kulturgüter sorgsamer zu behandeln und den besonders wertvollen eine Chance zu geben. Ein wenig Engagement von jedem Einzelnen ist eine gute Grundlage.
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